Gespräche

im Gespräch mit Peter Graham

Mathematik, Ethik und Zeit in der Musik

Czech Music Quarterly / 2010

Interview lesen:

Peter Graham
Du hast dich in der letzten Zeit viel mit Mathematik beschäftigt – einige Leute sagen, daß Musik und Mathematik miteinander viel gemeinsam haben. Abgesehen vom physikalischen Aspekt des Tons und einigen strukturellen Mitteln sehe ich auch den Gebrauch von Formeln (vor allem in der traditionellen Musik) als etwas, das in beiden Bereichen ähnlich ist. Beeinflußt deiner Ansicht nach die Art des mathematischen Denkens den Zugang zur musikalischen Kreativität?

Albert Breier
Es ist wahrscheinlich richtig, daß es keine Musik gibt, die völlig frei von Mathematik wäre (und die Umkehrung scheint auch zu gelten – der berühmte französische Mathematiker Jean Dieudonné nannte die Mathematik „die Musik des Verstandes“). Und so müssen auch Komponisten, die sich in ihren Partituren nicht bewußt mit der Mathematik befassen, auf den Tag gefaßt sein, an dem irgendein Musikwissenschaftler höchst komplizierte mathematische Strukturen und Strategien in ihrer Musik entdeckt…

Das Problem mit Formeln ist – in Musik wie Mathematik – , daß sie dazu neigen, universale Gültigkeit und Anwendbarkeit für sich zu reklamieren. Das Barock, die Blütezeit mathematischer und musikalischer Formeln, entwickelte die Idee einer mathesis universalis, eines umfassenden, auf der Mathematik beruhenden Gedankensystems. (Leibniz, der größte Verfechter der mathesis universalis, wird heute hochgeschätzt als bedeutendster Ahnvater der Computerwissenschaft.) Obwohl vielleicht der große populäre Erfolg der Barockmusik zum Teil ihrer formelhaften Konstruktion zu verdanken ist, bezweifle ich, ob darauf wahre musikalische Kreativität gegründet werden kann. Für mich ist das Problem eher, in meiner Musik die Mathematik loszuwerden, was nicht sehr leicht ist. Mathematik taucht an den unerwartetsten Stellen auf, und ich muß gut aufpassen – manchmal ist es sogar notwendig, seinen Frieden mit dem Feind zu machen.

Um nicht ungerecht zu sein, muß ich hinzufügen, daß ich mich dem Intuitionismus, einer von dem Niederländer L. E. J. Brouwer begründeten mathematischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, ziemlich nahe fühle. Wir verdanken Brouwer einige recht paradoxe Aussagen über die Mathematik, z. B. „Mathematik ist mehr ein Tun als eine Lehre“. Und Brouwer hat auch gesagt: „Alle Mathematik ist sündhaft“…

Peter Graham
Mathematik und Musik werden als höchst abstrakte Disziplinen betrachtet, jenseits von Gut und Böse. Beide werden aber für gute und böse Zwecke gebraucht oder mißbraucht. Sind wir schließlich nicht immer mit der Ethik konfrontiert, sogar wenn wir diese Frage zu vermeiden suchen?

Albert Breier
Der Mathematik, besonders der höheren Mathematik, ist es immer gelungen, eine Aura von äußerster Reinheit um sich zu schaffen. Einige Komponisten haben versucht, von dieser Aura zu profitieren; sie stellten sich vor, daß mathematische Reinheit automatisch musikalische Reinheit hervorbringt. Aber im ganzen scheint dies nicht der Fall zu sein. Noch mehr: mathematische Reinheit ist in keiner Weise mit ethischer Reinheit identisch. Gewiß war die Bombe, die Hiroshima zerstörte, ein Triumph der reinen Mathematik (einige sagen, sogar in größerem Maße als ein Triumph der modernen Physik). Die Beziehungen zwischen Mathematik und Ethik sind noch immer fast unerforscht. Aber unser tägliches Leben wird immer mehr von den Zahlen beeinflußt und gelenkt, und ich denke, daß es von zunehmender Bedeutung sein wird, den ethischen Implikationen dieser Tatsache Rechnung zu tragen.

Für mich sind reine Mathematik und reine Musik Mythen. Das bedeutet nicht, daß ich nicht das Streben nach Reinheit in der Musik respektiere (ich bin ein großer Bewunderer Weberns), aber mathematische Strenge der Struktur ist ganz entschieden nicht der einzige Weg, sie zu erreichen. (Schließlich sollte die mathematische Strenge von Weberns Partituren nicht zu sehr hervorgehoben werden, wie das die Darmstädter Schule tat – der lyrische Schwung ist wichtiger.)

Peter Graham
In der sogenannten europäischen Tradition (ungefähr vom 16. – 19. Jahrhundert) lag die größte Betonung wohl auf dem vertikalen Aspekt, dem Akkord (sogar in polyphoner Musik). Während des 20. Jahrhunderts können wird eine Verschiebung hin zum horizontalen Aspekt beobachten – hin zur Zeit. Was ist deine Sicht dieses Prozesses?

Albert Breier
Das Mittelalter schuf Häuser für Gott; im 16. – 19. Jahrhundert wurden Häuser für Menschen gebaut. Die Architektur ist jetzt schon seit über einem Jahrhundert im Stadium des völligen Verfalls; die Leute ziehen immerzu umher, und so kann auch die Musik keine tragfähigen vertikalen Strukturen mehr hervorbringen.

Mit den Leuten zieht auch die Musik umher: sie hat den großen Vorteil, daß man sie mitnehmen kann. Es ist möglich, beim Gehen zu singen, sogar ein Instrument zu spielen …

Das wachsende Bewußtsein der Zeit eröffnet neue Möglichkeiten für die Musik: schließlich beschäftigt sich die Musik in erster Linie mit der Zeit, und es ist sehr seltsam, daß diese grundlegende Tatsache so lange ignoriert worden zu sein scheint (wenigstens von den Theoretikern).

Peter Graham
Kannst du etwas über deinen persönlichen Zugang zur Zeit sagen?

Albert Breier
Manchmal träume ich von einem paradiesischen Zustand, in dem sich Musik und Zeit nicht mehr unterscheiden, sondern vollkommen miteinander verschmelzen… Ich weiß, daß das mit menschlichen Mitteln nicht erreicht werden kann; die Musik als Kunstform bleibt immer bis zu einem gewissen Grade zeitfremd. Aber wir können verhindern, daß sie zum Feind der Zeit wird. Vielleicht sind einige der heute am höchsten geschätzten europäischen Meisterwerke der Musik in Wirklichkeit der Zeit gegenüber feindlich eingestellt.

Mit der Zeit umzugehen ist eine gefährliche Sache; ganz entschieden hat die Zeit ihre Schrecken. Aber vielleicht kann die Musik eine Art Freundschaft mit der Zeit erreichen, vielleicht kann sie den Fluß der Zeit hörbar machen, der nie eintönig ist.

Peter Graham
Die europäische Musik hat sich in relativer Isolation von den anderen musikalischen Kulturen entwickelt. Gibt es in der Musik universale Prinzipien? Ich weiß, daß du sehr interessante Parallelen zwischen der europäischen Symphonik und der chinesischen Malerei siehst …

Albert Breier
Es ist möglich, daß sich „musikalisches Denken“ nicht notwendigerweise nur in den musikalischen Hervorbringungen einer Kultur manifestiert. Es kann in der Malerei oder der Dichtung stärker hervortreten (oder, um zu diesem Thema zurückzukehren, in der Mathematik…). Zum Beispiel besitzt die Dichtung Verlaines eine größere musikalische Kraft als etwa die Musik von Charles Gounod.

Ich stand immer unter dem Eindruck, daß die großen chinesischen Maler eine viel größere musikalische Begabung hatten als die chinesischen Musiker. (Natürlich möchte ich die großartigen Leistungen der chinesischen qin-Musik nicht verkleinern.) In ihren langen Querrollen zeigen sie ein Gefühl für Zeitproportionen, das man wahrhaft symphonisch nennen darf (schon vor einem Jahrhundert hat der Sinologe Berthold Laufer das halbmythische chinesische Malergenie Wang Wei mit Beethoven verglichen).

Ich denke, daß es schwierig ist, von allgemein gültigen musikalischen Prinzipien zu sprechen. Aber der ganzen Menschheit ist vielleicht ein musikalischer Geist eigen, der sich jedoch frei in vielen möglichen Weisen aussprechen kann.

Peter Graham
Gibt es für dich als Komponist eine entscheidende Frage?

Albert Breier
Obwohl ich dich nicht mit einer ausführlichen Klage über meine persönlichen Schwierigkeiten mit dem Komponistenleben langweilen will, würde ich doch gerne sagen (wie es zweifellos schon oft gesagt worden ist …), daß die Rolle des Komponisten in der Gesellschaft heute höchst unklar ist. In gewisser Hinsicht kann man nur von den toten Komponisten sagen, daß sie „existieren“. Lebende Komponisten sind in bezug auf die Frage, was sie „sind“ oder „sein sollen“, sehr unsicher; bis hin zu dem Punkt, daß sie nicht wissen, ob sich sich selbst überhaupt „Komponisten“ nennen oder einen anderen Namen gebrauchen sollten …

Wird es in der Zukunft eine Institution geben, der der Komponist dienen kann, ohne seine Integrität zu opfern? Soweit ich sehe gibt es heute keine. Ich kann den Tag nicht voraussagen, an dem die Einsamkeit – diese moderne Krankheit – die Komponisten endlich verlassen wird. Aber meiner Meinung nach arbeite ich nie für mich allein.

Ohne Freundschaft könnte ich nicht überleben. Aber die Freunde sind wenige und über die Welt verstreut. Dennoch werde ich die Hoffnung nicht aufgeben.

im Gespräch mit Ondrej Štochl

Schweben und Strenge

A tempo Revue / 2009

Interview lesen:

Ondrej Štochl
Sie haben öfter gesagt, daß für Sie der entscheidende Einfluß die Musik von Morton Feldman war. Können Sie etwas dazu sagen? Sind Sie bei der Wahl Ihres Vorbilds nur Ihrem Gefühl gefolgt oder haben Sie dafür auch rationale Begründungen?

Albert Breier
Die Musik von Morton Feldman war für mich aus mehreren Gründen wichtig. Zunächst wegen ihrer großen Ruhe und Konzentration. Aber auch, weil sie nicht nach einem System konstruiert ist, aber dennoch den Eindruck großer Strenge macht. Feldmans Musik kennt das Geheimnis, vollkommen „logisch“ zu wirken, ohne daß man weiß, wie sie „gemacht“ ist. Es ergibt sich daraus ein schwebender Charakter, den ich sehr liebe.

Ondrej Štochl
Jetzt zu Ihrer Musik. Die hat auch einen schwebenden Charakter, mir ist ihre Leere und Unbestimmtheit sehr angenehm. Meiner Meinung nach spielt bei Feldman und auch bei Ihnen die Arbeit mit der Strukturierung der psychologischen Zeit eine große Rolle. Haben Sie dafür rationale Regeln oder Prinzipien?

Albert Breier
Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube nicht, daß man die Psychologie rational erfassen kann. Ich stelle mir außerdem vor, daß die Erfahrung der Zeit etwas ist, was über die Psychologie hinausgeht. Beim Komponieren habe ich nicht so sehr ein positives Prinzip; ich versuche eher, alles zu vermeiden, was der Zeiterfahrung im Wege stehen könnte.

Ondrej Štochl
Also ist Ihre Arbeit rein intuitiv?

Albert Breier
Meine Arbeit ist nicht nur intuitiv. Aber es gibt ein intuitives Element darin, das ist ganz einfach die Bestimmung der Länge: wie lang soll ein Ton dauern, wie lang ein Abschnitt, wie lang das ganze Stück. Wenn ich das weiß, besteht die restliche Arbeit darin, jede Art von Verfestigung zu vermeiden, die den Eindruck des Schwebenden vernichten könnten. Dafür habe ich ziemlich strenge „Regeln“: zum Beispiel sollen einfache mathematische Verhältnisse vermieden werden, sowohl in der zeitlichen Proportion als auch in der Intervallstruktur. Das heißt, es gibt keine Abschnitte, deren Länge im Verhältnis 2 : 1 steht usw. Bei den Intervallen gehe ich sehr vorsichtig mit Oktaven und Quinten um, weil sie die „stärksten“, „festesten“ Intervalle sind. Sie sollen nicht ganz ausgeschlossen bleiben, aber wenn sie auftauchen, müssen sie durch „Gegenkräfte“ neutralisiert werden, eine Quinte etwa durch eine Sexte. Allgemein bevorzuge ich die Intervalle, bei denen der Grundton nicht der Baßton ist: Quarte, Sexte, Sekunde. Das Verhältnis von Konsonanzen und Dissonanzen muß ausgewogen sein, zu viele Dissonanzen machen leicht den Eindruck des Starren, Unbewegten. Wenn ich arbeite, gilt für mich: „Der erste Ton ist frei, die anderen sind gebunden.“ Selbst wenn ich mir intuitiv über die Zeitverhältnisse des Stücks klar bin, muß jeder neue Ton „erarbeitet“, „erdacht“ werden, wird also nicht mehr rein intuitiv gefunden.

Ondrej ŠtochlAus Ihrer Antwort schließe ich, daß der schwebende Charakter Ihrer und anderer Musik auf dem Prinzip der Neutralisation in der Mikrostruktur beruht. Das stimmt mit meinem gefühlsmäßigen Eindruck überein. Dank diesem Prinzip wird für mich diese (und auch Ihre) Musik zu einem fast mystischen Erlebnis – zu etwas der Zeitfolge Enthobenem (Eliade hat darüber geschrieben). Können Sie sagen, wie Sie zu Ihren strengen Regeln gekommen sind?

Albert BreierFür die Strenge meiner Arbeitsweise gibt es, soweit ich das selbst beurteilen kann, zwei Ursachen: erstens die Erfahrung, daß mir eine ungeheuer große Menge von musikalischem Material zur Verfügung steht, Musik als vielen verschiedenen Ländern und Zeiten, daß es aber keine Möglichkeit gibt, zu bestimmen, welche Musik die „richtige“ Musik ist. Zweitens, (damit zusammenhängend), daß es eigentlich in einem bestimmten Sinn überhaupt nicht mehr möglich ist, „direkt“ oder „spontan“ zu komponieren. Das heißt, ich muß in der Musik alles zulassen (alles darf vorkommen), aber nichts darf zu sehr an eine bestimmte Tradition, einen bestimmten Stil erinnern. Ich habe sehr viele Möglichkeiten und zugleich keine Möglichkeiten. Ich muß Musik schreiben und darf gleichzeitig keine Musik schreiben. Mein Ausweg aus dieser verzweifelt schwierigen Situation ist, daß ich versuche, eine bestimmte Art von musikalischer Offenheit zu erreichen. Offenheit heißt nicht, daß die Musik unverbindlich und beliebig wird; ich glaube, daß man gerade, um den Eindruck der Offenheit zu erreichen, sehr streng arbeiten muß. Die Gefahr ist eben sehr groß, daß man doch immer wieder ein Klischee produziert. Ein Klischee ist für mich auch eine bestimmte Art von „Avantgarde“Musik, die nichts als „neu“ sein will und deshalb in der Regel sofort langweilig wird.

Ondrej Štochl
Das ist sehr interessant. Können Sie sagen, welche Art von Avantgarde-Musik für Sie nurmehr ein langweiliges Klischee darstellt?

Albert Breier
Ich glaube, daß jede Musik schnell zum Klischee werden kann, die nur „neu“ oder nur „sie selbst“ sein will. (Man braucht gar nicht unbedingt an die Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts zu denken, schon Wagner ist für mich ein Beispiel.) Das heißt, ohne eine lebendige Auseinandersetzung mit der Geschichte kann eine Musik nicht auf Dauer interessant sein. Natürlich ist auch die bloße Nachahmung von historischen Stilen langweilig, aber ich glaube, daß es nicht gut ist, die Geschichte ganz aus dem Blick zu verlieren.

Ondrej Štochl
Gehen bei Ihnen die Regeln der Komposition voraus oder abstrahieren Sie sie aus Ihren intuitiv gewonnenen Ergebnissen? Sollten nach Ihrer Meinung die Regeln einer Komposition zugrundegelegt werden oder sollten sie sich allmählich aus dem Arbeitsprozeß entwickeln?

Albert Breier
Ich denke, man kann nicht grundsätzlich sagen, ob die Regeln zuerst kommen oder die Erfindung. Vielleicht sollte man gar nicht von „Regeln“, sondern ganz allgemein von „Handwerk“ sprechen? („Regeln“ klingt mir zu abstrakt.) Ein guter Handwerker hat natürlich gewisse Kenntnisse, bevor er zu arbeiten beginnt, aber er muß sich doch auch auf die Probleme einstellen, die erst während der Arbeit sichtbar werden. Es gibt eben immer vieles, was man zu Anfang noch nicht wissen kann und bei dem einem keine Regeln helfen.

Ondrej Štochl
Kommen wir zurück zu Ihrem Verhältnis zu Feldman. Wenn ich seine Musik höre, kann ich gar keine Kontraste finden – oder vielmehr, alle Kontraste bleiben bloß innerhalb der Mikrostruktur. Das resultierende Spannungsniveau ist deshalb so konstant, daß man eigentlich keinen Kontrast und keine Spannung mehr fühlen kann. Bei Ihrer Musik sind für mich gerade die Kontraste – scharfe, energiegeladene – sehr interessant, wobei Sie diese Kontraste nicht im Sinn der klassischen Form oder Architektur einsetzen. Die Kontraste existieren allein in der Zeit, ohne einen Formzusammenhang zu begründen – und die Musik ist einfallsreich, mit großen Umschwüngen, bleibt aber trotzdem im Ausdruck ganz statisch. Können Sie sagen, wie Sie das erreichen?

Albert Breier
Ich glaube, Feldman wollte so etwas wie eine „reine“ Zeiterfahrung, deswegen hat er weitgehend auf Kontraste verzichtet. Für mich ist die Zeit dagegen „unrein“, das heißt, grundsätzlich kann alles vorkommen, auch schärfste Kontraste sind möglich. Wichtig ist nur, daß man die Kontraste nicht als „Architektur“ hört, sondern als Zeitereignisse. Die Kontraste geschehen einfach, wie die Ereignisse in der Welt geschehen. Es entsteht dadurch kein Gebäude, das man wie ein Haus „schön“ oder „nicht schön“ finden kann aufgrund seiner Proportionen, Verzierungen usw. Deswegen gibt es auch keinen Wechsel des Ausdrucks. Der Rhythmus der Ereignisse ist etwas, das man aufmerksam und konzentriert betrachten soll, man soll sich nicht durch starke Emotionen mitreißen lassen.

Ondrej Štochl
In der letzte Zeit nehme mir bei der Beschäftigung mit Ihrer Musik immer stärker ihre Verwandtschaft mit der chinesischen Malerei wahr. Können Sie dazu etwas sagen?

Albert Breier
In der chinesischen Malerei gibt es eine sehr interessante und sehr perfekte Gestaltung der Zeit. Das ist merkwürdig, weil die Malerei ja als eine räumliche Kunst gilt. Ich glaube, daß die europäische Musik der Gestaltung der Zeit bisher aus dem Weg gegangen ist, sie hat sich viel mehr um räumliche Form, Architektur usw. gekümmert. Für mich bedeutet die chinesische Malerei ein großes Vorbild, weil sie einerseits sehr strenge, allgemein gültige Regeln hat, andererseits sich immer direkt auf Körper und Geist (und Seele) des einzelnen Künstlers bezieht. Auch wenn die chinesische Malerei sehr abstrakt ist, erkennt man doch immer, daß sie von der Hand des Künstlers stammt (anders als z. B. eine Fotografie). Ebenso denke ich, daß auch die sehr abstrakte Musik von der Stimme (dem Atem) des Komponisten herkommen soll. Darin liegt gleichzeitig eine Gebundenheit wie eine Freiheit.

Ondrej Štochl
Lassen Sie uns zum Schluß noch einmal auf den „schwebendem Charakter“ ihrer Musik zurückkommen. Viele Komponisten spüren heute die Notwendigkeit, Musik mit statischem Ausdruck schreiben – einige nur zur Benützung bei „Meditationen“ (oder wie man es nennen soll), aber manche wollen auch wirklich ernste und tiefe Musik hervorbringen. Warum ist Ihrer Meinung nach eine solche Musik heute im europäischen Kulturraum so wichtig?

Albert Breier
Vielleicht ist es so, daß die Menschen in Europa heute nicht mehr so „in Musik leben“ wie in früheren Zeiten. Es werden bestimmte Werke immer wieder gespielt, aber diese „Kultur“ hat mit dem Leben der Menschen nicht mehr sehr viel zu tun. Es herrscht überall eine gewisse Erstarrung. Die „schwebende Musik“ ist vielleicht eine Art, wie man heute „in Musik leben“ kann. Das heißt, sie versucht keine „Meisterwerke“ hervorzubringen (die sind immer auch etwas Unbewegtes), sondern es geht um die Möglichkeit, in der Musik „ein paar Schritte zu gehen“ („einen Weg zu finden“, wie die chinesischen taoistischen Maler).